Arbeitsrecht: Rente bzw. Rentennähe ist bei Sozialauswahl zu berücksichtigen

Bei der Sozialauswahl kann bei der Gewichtung des Lebensalters eine Rente bzw. Rentennähe zulasten eines zu kündigenden Arbeitnehmers berücksichtigt werden, so das Bundesarbeitsgericht (BAG, Urteil vom 08.12.2022 – 6 AZR 31/22  – Pressemitteilung 46/22 des BAG vom 08.12.2022).

Sachverhalt

Die Klägerin (Jahrgang 1957) war seit 1972 bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt.

Der beklagte Insolvenzverwalter schloss nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens mit dem Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 der 396 beschäftigten Arbeitnehmer umfasste.

In der Namensliste war auch die Klägerin aufgeführt. Mit Schreiben vom 27.03.2020 kündigte der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis zum 30.06.2020.

Die Klägerin hält die Kündigung für unwirksam. Der Insolvenzverwalter trägt hingegen vor, die Klägerin sei in ihrer Vergleichsgruppe – auch in Bezug auf den von ihr benannten, 1986 geborenen und seit 2012 beschäftigten Kollegen – sozial am wenigsten schutzwürdig. Denn sie könne als einzige ab 01.12.2020 eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte gemäß §§ 38, 236b SGB VI beziehen. Aus diesem Grund falle sie hinter alle anderen vergleichbaren Arbeitnehmern zurück.

Im Zuge weiterer Verhandlungen mit dem Betriebsrat vereinbarte der Insolvenzverwalter mit diesem Ende Juni 2020 aufgrund der nunmehr beabsichtigten Betriebsstilllegung nach Ausproduktion zum 31.05.2021 einen zweiten Interessenausgleich mit Namensliste.

Der Insolvenzverwalter kündigte der auf der Namensliste aufgeführten Klägerin vorsorglich erneut am 29.06.2020 zum 30.09.2020. Die Klägerin erhob auch gegen diese Kündigung Kündigungsschutzklage.

Der beklagte Insolvenzverwalter war sowohl in der I. Instanz vor dem Arbeitsgericht Dortmund als auch in der II. Instanz vor dem Landesarbeitsgericht Hamm unterlegen.

Entscheidung

Die Revision des beklagten Insolvenzverwalters hatte teilweise Erfolg. Das BAG befand die vorsorglich ausgesprochene Kündigung vom 29.06.2020 für wirksam. Die Betriebsparteien hätten die Rentennähe der Arbeitnehmerin bei der Sozialauswahl im Hinblick auf das „Lebensalter“ berücksichtigen dürfen.

Die soziale Auswahl diene dazu, gegenüber demjenigen Arbeitnehmer die Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig ist. Hierbei sieht das BAG das Auswahlkriterium „Lebensalter“ als ambivalent an.

Zwar nehme die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil ältere Arbeitnehmer typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben.

Sie falle aber wieder ab, sobald der Mitarbeiter entweder

  • spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters  verfügen kann oder
  • über ein solches Ersatzeinkommen bereits verfügt, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht.
 

Für die Altersrente für schwerbehinderte Arbeitnehmer, §§ 37, 236a SGB VI gelten diese Erwägungen nicht.

Die Kündigung vom 27.03.2022 war hingegen unwirksam, da die Sozialauswahl unter Außerachtlassung anderer Auswahlkriterien wie Betriebszugehörigkeit und Unterhaltspflichten erfolgte. Dies ist grob fehlerhaft gewesen.

Kommentar

Die Entscheidung des BAG betraf zwar einen im Insolvenzverfahren angesiedelten Fall. Die Erwägungen zur Sozialauswahl dürften aber auch für Fälle betriebsbedingter Kündigungen außerhalb des Insolvenzverfahrens anwendbar sein. Hier bleibt aber die Begründung des BAG im Einzelnen abzuwarten. Es liegt momentan nur die Pressemitteilung des BAG vor.

Im Rahmen der Sozialauswahl müssen aber auch die anderen Kriterien wie Betriebszugehörigkeit nach wie vor angemessen berücksichtigt werden.

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Unsere Leistungen im Arbeitsrecht umfassen sowohl die einzelfallbezogene arbeitsrechtliche Beratung als auch die laufende Beratung von Unternehmen. Ferner entwickeln wir arbeitsrechtliche Unternehmensstrategien und setzen diese um.

Autor

Michael Englert
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht

Der Autor ist Associate der Anwaltskanzlei Pfefferle Helberg & Partner in Heilbronn